Licht in der Finsternis. Licht im Schatten des Todes. Das feiern wir Christenmenschen in dieser Nacht.
Ein Fest, das der Realität verpflichtet ist. Es bringt nicht nur das Licht, sondern auch die Finsternis zur Sprache. Das Christfest redet die hässlichen Seiten des Lebens nicht schön. Es lullt die Menschen nicht ein mit Kerzenschein, Süßigkeiten und Gänsebraten. Es teilt kein religiöses Opium aus, das Gemütlichkeit verbreitet und die Augen verschließt vor der Welt, wie sie ist.
Das Licht, das mit der Geburt des Messias in die Welt gekommen ist, macht die dunklen Seiten des Lebens deutlicher sichtbar. Es schärft den Blick für die hässlichen Orte dieser Welt. Nur wer das Dunkle in unserer Welt nicht vergisst und die Schatten in seinem Leben nicht verdrängt, kann sich an dem Licht freuen, das aus der Höhe zu uns kommt.
Das Licht ist ein Königskind. Geboren in der alten Königsstadt Bethlehem. Ein Davidsohn. Er wird sich als Gegenkönig erweisen. Es liebt die Widerworte und leitet an zum Widerstand. Zum gewaltfreien Widerstand. Es bestreitet die Macht des Kaisers in Rom und seines Landpflegers in Jerusalem genauso wie die des Kinderschlächters Herodes. Auch heute ist mit seiner Geburt den korrupten Potentaten und den Tyrannen dieser Welt der Kampf angesagt, auch wenn fromme Christen in Amerika oder Großbritannien oder Russland verblendet sie bejubeln.
Das Königskind ist ein Judenkind. Damit ist über Gottes Ort in der Welt entschieden. Wieder wählt Gott das Unscheinbare, das von Menschen Verachtete, das von den Bauleuten Verworfene. Wieder kommt Gott in Israel zur Welt, in seiner ersten Wahl.
Damit erhellt das Licht aus der Höhe die Parteilichkeit Gottes in der Tiefe. In der Bibel heißt diese Parteilichkeit „Gottes Erbarmen“. Gottes Solidarität mit den Leidenden, auch mit den Gottlosen, sogar mit Gottes Feinden. Gott ist nicht der große Unparteiische im Himmel, kein Allerwelts-Gott. Kein „lieber Gott“, der so ist, wie manche es von ihrem Hund sagen „Der ist lieb. Der tut nichts. Der will nur spielen“. Im Kind dieses jüdischen Mädchens aus der Provinz zeigt Gott sein wahres Gesicht. Gott ergreift Partei – wie bei Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens, die Partei der Unterdrückten und Verfolgten und an den Rand Gedrängten.
So wird das Königskind und das Judenkind zum Flüchtlingskind. Auf der Flucht vor denen, die ihm nach dem Leben trachten, bittet es um Zuflucht in einem fremden Land und findet Asyl ausgerechnet in Ägypten. So bringt es Licht zu den Flüchtenden, zu denen, die im Schatten des Todes leben.
Und zugleich richtet sich das Licht aus der Höhe wie ein Scheinwerfer auf die Fluchtwege durch Wüsten, über Gebirge, durch Flüsse und über das mörderische Mittelmeer – und auf die Grenzen, die die Fluchtwege versperren. Damit wir Leidverschonten nicht wegschauen und mit den Achseln zucken „Da kann man ja doch nichts machen.“ So lenkt es unsere Schritte auf den Weg des Friedens und der Gerechtigkeit.
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Noch steckt das Kind in den Windeln. Noch stecken das Heil und die Rettung, die es bringt, in den Windeln. Noch ist erst ein kleines Licht entzündet. Darum feiern wir heute das kleine Licht. Das Fest der Kerzen. In einer dunklen Kirche, zu unüblicher Zeit in einer dunklen Nacht.
Wir freuen uns an der Macht des kleinen Lichtes. In einer finsteren Höhle zerstört nur eine Kerze die ganze Macht der Finsternis. Sich an einer Kerze, an einem kleinen Licht, zu erfreuen, ist darum besser, als auf die Dunkelheit zu schimpfen. Frieden können wir nicht schaffen – ob mit oder ohne Waffen. Aber Schritte auf dem Weg des Friedens und der Gerechtigkeit. Das ist es, was wir können, wozu wir fähig sind.
Das Meer des Elends dieser Welt können wir nicht ausschöpfen. Das Überleben unseres Planeten können wir nicht machen. Was wir können, sind unsere Schritte lenken. Auf den richtigen Weg – und die falschen Wege der Vergangenheit verlassen. Umkehren können wir und in die richtige Richtung gehen. Da kann ein sechzehnjähriges Mädchen zur Wegweiserin für die ganze Welt werden. Und was wir können, das sollen wir tun. Der erste Schritt ist bekanntlich der schwerste. Das Kind aus Bethlehem ist ihn gegangen. Darum können wir ihm folgen.
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Auch das königliche Judenkind ist nur erst das kleine Licht. Es wird verglichen mit dem Morgenstern, der Morgenröte, dem Morgenglanz. Es ist das Licht in der Nacht. Das Licht, das den kommenden Tag ankündigt. Die Botschaft dieses Lichtes ist eine Trostbotschaft, die Hoffnung stiftet. Mitternacht ist vorüber. Das Schlimmste ist überstanden. Noch ist es finster, aber es bleibt nicht finster. Der Tag wird kommen, auch wenn du noch nichts von ihm siehst als einen hellen Stern am Himmel.
Hinter den Kulissen, hinter deinem Rücken, ohne dass du daran beteiligt bist, bahnt sich der Tag seine Bahn. Auf den Fidschi-Inseln wissen sie schon, was wir nur glauben können. Die Sonne ist nicht von der Finsternis verschluckt. Die Sonne ist auf dem Weg. Das große Licht kommt.
Wir feiern das kleine Licht, weil wir auf das große Licht warten. Darum findet das Lichterfest in dieser Nacht statt. Drei Nächte nach der längsten Nacht des Jahres. Die Sonnenwende vertreibt die Angst vor dem Sieg der Finsternis. Wer die Gestirne beobachtet, der weiß es seit drei Nächten. Jede der letzten drei Nächte währt ein paar Minuten kürzer. Was bei der Sonnenwende Menschen, gelähmt von der Finsternis, noch nicht glauben können, das wird Nacht für Nacht und Tag für Tag zu einer wachsenden Gewissheit: Das Licht siegt über die Finsternis. Heute am dritten Tag wird diese Gewissheit mit einem rauschenden Fest gefeiert.
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Licht in der Finsternis – das feiert heute auch das Judentum mit seinem Chanukka-Fest. Licht in der Finsternis – das feiern viele Menschen in vielen Religionen in dieser dunklen Jahreszeit. Alle erfreuen sich an den kleinen Lichtern. Die Religionen geben ihnen viele verschiedene Namen. Viele Wahrheiten, die Klarheit und Verstehen bringen. Viele Zuwendungen, die Herzen erwärmen. Viele Wegweiser, die Orientierung geben.
Alle Religionen bringen die kleinen Lichter. Wie die Kerzen in unserer Hand, Fragmente des Richtigen und Gerechten, die unsere Schritte lenken auf den gemeinsamen Weg des Friedens. Die kleinen Lichter sind die Vorboten des Großen, wie Morgenstern und Morgenglanz für die später aufgehende Sonne.
Das große Licht ist unverfügbar. Wir besitzen es nicht. Auch der Messias, der Christus, ist uns nicht verfügbar. Wir Christen gehören dem Christus, aber der Christus gehört nicht uns. Wir können uns nicht mit ihm identifizieren. Und wir können uns mit ihm schon gar nicht von anderen abgrenzen. Er hat das Sagen, nicht wir.
Das große Licht – das können wir nur – wie alle anderen – empfangen, ihm vertrauen, ihm glauben und darum mutig und entschlossen der Zukunft entgegen gehen.
Die Erfahrungen mit der Natur helfen, die Trostbotschaft der Morgenröte, den Trost des kleinen Lichtes zu glauben. Jeden Morgen neu und jeden Winter neu. Das Licht siegt über die Finsternis, das Leben über den Tod, Gerechtigkeit über das Unrecht, Frieden über Krieg und Gewalt. Die das glauben, die gleichen dem Vogel, der singt, solange es noch dunkel ist. Darum lade ich Sie ein, mit Paul Gerhardt zu singen:
Ich lag in tiefster Todesnacht, / du wurdest meine Sonne, / die Sonne, die mir zugebracht / Licht, Leben, Freud und Wonne. / O Sonne, die das werte Licht / des Glaubens in mir zugericht’, / wie schön sind deine Strahlen!
Predigt an Heiligabend 2019 in der Erlöserkirche in Jerusalem
Unser Gott ist voll Erbarmen. Darum wird auch der helle Morgenglanz aus der Höhe zu uns kommen, um denen Licht zu bringen, die in der Finsternis und im Schatten des Todes leben, und um unsere Schritte auf den Weg des Friedens zu lenken. (Lukas 1, 78-79)